Wir leben unerzogen
Ich höre Eltern oft sagen „tja, ich will, dass meine Kinder gut erzogen sind…“ oder „ich möchte meinen Kindern das-und-das aufm Weg mitgeben…“ Sie implizieren damit, wenn ich mein Kind nicht zwinge etwas zu tun, macht es das sowieso nicht. So legitimieren es Eltern ihrem Kind mit einem Taschentuch hinterher zu rennen, während sie versuchen dem Kind die Nase zu putzen (was meist damit endet, dass der Elternteil verzweifelt ruft „Ich zähle bis drei, nur drei! 1…2…3…“ gefolgt vom ängstlichen Jammern und reichlich Tränen) und rechtfertigen es Eltern, ihr Kind zum bitte und danke oder hallo und tschüss sagen zu zwingen.
Ich denke ich wäre nicht allzu glücklich wenn meine Kinder unhöflich und unanständig gegenüber anderen wären. Natürlich hat auch jeder ein anderes Verständnis davon, wie Unhöflichkeit aussieht. Ich finde es nicht unhöflich wenn mein Kind zu einem Fremden nicht „guten Tag“ sagt- er hat das Recht auf seine Komfortzone, so wie wir alle, und seine erlaubt es ihm nicht mit Leuten zu kommunizieren, bevor er richtig warm wurde (es gibt wenige Ausnahmen). Er zieht die Augenbrauen runter und weicht zurück. Marley ist vier Jahre alt und hat in diesem Alter an solchen obligatorischen Ritualen keinen Bedarf.
Mein älterer Sohn hat erst begonnen Leute regelmäßig zu grüßen, als er sechs war und sich zu verabschieden etablierte er mit acht Jahren. Davor war beides eher sporadisch, der Situation entsprechend. Freunde und Verwandte kommentierten sein Verhalten und sagten „aber er sollte doch…“ Das machte ihn noch abgeneigter es zu tun und resultierte darin, dass er sich beim Abschied öfter versteckte.
Sullivan, jetzt zehn Jahre alt, fürchtet sich nicht vor Erwachsenen, davor seine Meinung zu äußern oder für seine Rechte einzustehen. Kinder werden oft auf herablassende Art angesprochen, so als wäre ihre bloße Anwesenheit eine Belästigung- die ausgestreckte Hand im Porzellan-Geschäft bedarf eines barschen „Vorsicht! Nicht anfassen!“ Sully hat schon öfter „man kann das auch freundlich sagen!“ oder ähnliches geäußert. Die Reaktion ist meist „die Frechheit!“ oder ein amüsiertes Kichern.
Ich gebe meinen Kindern Rat. Wenn eine Nase läuft biete ich ein Taschentuch oder Marley sogar meine Hilfe beim Schnauben an. Ich tue das nicht meinetwegen, sondern für ihren Komfort.
Als sie noch jung waren und vertieft im Spiel, habe ich vielleicht die Nase ohne zu fragen abgewischt so lange ich wusste es störte sie sonst nicht. Wieso sollte ich jemanden stören weil ich etwas an ihrem Körper richten will, was sie aber gar nicht wollen?! Würde ich das bei einem Freund machen wäre das übergriffig! Wenn die triefende Nase mich doch so stört, richte ich meinen Fokus auf andere Dinge und respektiere die Entscheidung meines Mitmenschen.
Ich putze meine Nase mit einem Taschentuch; ich benutze nicht meinen Ärmel. Ich gehe schlafen wenn ich müde bin, ich bleibe nicht wach bis meine Augen schmerzen (obwohl…manchmal ja doch). Ich lese gerne. Manchmal schaue ich abends gerne Filme. Ich bemühe mich Sachen ohne Plastikverpackung zu kaufen und nehme keine Plastiktüten entgegen. Ich kaufe fast nur Bio-Essen. Mein Zuhause ist sauber und aufgeräumt. Ich benutze die Klospülung. Ich putze zweimal am Tag meine Zähne. Ich dusche gerne. Ich wasche meine Füße wenn ich draußen barfuß gelaufen bin. Ich bin verständnisvoll und zeige Einfühlungsvermögen. Ich helfe da, wo ich kann. Ich bin leidenschaftlich, ambitioniert und habe Eifer.
Meine Kinder sehen wie ich diese Dinge mit Freude mache und wie natürlich es ist nach Prinzipien, Moralen und Standards zu leben.
Ich bestaune die Dinge, die meine Söhne sagen und tun. Sullivan verschenkt sehr gerne Sachen wenn wir Flohmarkt machen; er ist nicht auf das Geld fixiert, er sieht Menschen gerne glücklich. Marleys Standardantwort auf die Frage „kannst du mir mal helfen…?“ ist „Ja natürlich“, genau wie meine. Wenn ich mir den Fuß stoße oder den Finger klemme fragt Marley in einem ruhigen, liebevollen Ton „geht es dir gut?“ und zeigt authentische Sorge. Sully hilft aus eigenem Antrieb Sachen zu tragen. Er ist auch in der Lage (und manchmal bereitwillig) seine Bedürfnisse hinter die seines jüngeren Bruders zu stellen, wenn eine Situation potentiell stressig für mich oder Marley werden könnte- er muss nicht aufgefordert werden.
Meine Kinder driften durch Phasen in dem sie bestimmtes Essen nicht mögen oder besonders mögen, so wie ich. Ich suche Rosinen aus Müsli heraus, bringe Händevoll Gojibeeren, trenne Spinat von Soße, beobachte wie Käsebrocken mit Freude verzehrt werden und schalenvoll Joghurt mit Honig oder Hirse mit Datteln verschlungen werden. Es gibt so viele gesunde, leckere Speisen, die am Tag gegessen werden, wieso sollte ich rummeckern weil das Gemüse beim Mittagessen stehengelassen wurde? Mir ist es lieber meine Beziehungen mit Menschen und Essen bleiben gesund und intakt!
Es gibt schon Situationen, die Rücksicht und Empathie in nervenaufreibenden Mengen erfordern – gerade vor ein paar Tagen wollte Marley ein Spielzeugauto von seinem vierjährigen Freund mit nach Hause nehmen, sagte er wolle es sogar klauen, so cool finde er es. Ich setzte mich zu ihm, tröstete ihn und erklärte es wäre nicht möglich es mitzunehmen und wieso. Die Mutter des Jungen und ich versuchten ein Tauschgeschäft auf die Beine zu stellen, doch nach langem hin-und-her wollten beide Jungs es nicht. Als ihre Wege sich trennten, gab es keine verletzten Gefühle, die Autonomie beider war intakt und unversehrt. Wir Mamas haben einfach Rat und Anleitung angeboten, und sie wurden mit Dank und Freude erhalten.
Unsere Kinder wissen wir sind diejenigen, an die sie sich wenden können, wenn sie selbst überfragt sind.
Eltern, die Kinder dazu erziehen keine Szene zu machen, die entsetzt und verlegen wären, weil das Kind das Auto klauen wollte, hätten das Auto vielleicht schnell und schlagkräftig weggenommen, oder das Kind durch Drohungen manipuliert, bis es selber das Auto zurückgegeben hätte. Das Kind wäre ganz anders aus der Situation gegangen, mit sehr andersartigen Emotionen, als die die Marley erlebt hat. Gefühle der Traurigkeit, Wut, Ablehnung, Eifersucht und vielleicht sogar Rachsucht.
Wenn Autonomie gegeben ist und Kinder respektiert werden, können sie zu Erwachsenen schauen, um Anleitung zu erhalten- und nehmen diesen Rat sogar auch an. Sie müssen ein gewaltandrohendes Taschentuch nicht fürchten oder einen ungewollten Kuss; dass Sachen ihnen weggenommen werden oder in den Mund gezwungen werden; müssen das Gefühl nicht aushalten jemandem völlig ausgesetzt zu sein, der ihren Eigenwille selten in Betracht zieht.
I invite you to take your liberty and join the revolution!
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