Unerzogen für Anfänger: Was tun bei „schlechtem“ Benehmen und wieso nicht bestrafen?

Verfasst von Justine Holly am .

„Schlechtes“ Benehmen ist tatsächlich nur schlecht, wenn wir es so interpretieren. Kinder kommunizieren durch ihr Verhalten und es ist an uns ihre Botschaften zu empfangen: Ein Kind, das es nicht unterlassen kann die Gardinen zu untersuchen, obwohl du gesagt hast, es solle es lassen, möchte damit spielen und dessen Eigenschaften kennenlernen (wie fühlen sie sich an? Wie verhält sich der Stoff, wenn er bewegt wird? Kann ich mich dahinter verstecken? Kann ich mich daran hängen?). Das Kind möchte dich vielleicht zum Spielen einladen und selbst wenn der Versuch fehlschlägt, wirst du ja trotzdem eingebunden und schenkst ihm die gesuchte Aufmerksamkeit – es kann nicht die Verantwortung für die Qualität des Spiels tragen, mehr als seinen Versuch und seine Kommunikation kann es nicht geben. Das Kind wiedersetzt sich vielleicht, weil kein anderes Verhalten oder keine andere Kommunikation funktioniert… die Gardinen sind zum Lockmittel geworden, aber die Nachricht bleibt dieselbe, „ich langweile mich, ich brauche dich, spiel mit mir, lass mich meine Welt erkunden, ich interessiere mich für Reaktionen und dafür, wie ich meine Umwelt beeinflusse“.

Wenn wir „Ja“ Umgebungen erschaffen, können Kinder sich frei in ihrem Zuhause bewegen und alles unter die Lupe nehmen, was sie interessant finden. Wir müssen Dinge entfernen oder sichern, die gefährlich sein können. Wenn wir nicht möchten, dass Kinder mit manchen Gegenständen spielen, sollten sie außer Reichweite verstaut (und vielleicht sogar außer Sicht) werden. Kinder, die ungehindert erforschen können, ohne ausgeschimpft oder ständig unterbrochen zu werden, sind aufmerksam, wenn etwas tatsächlich gefährlich ist oder z.B. bei Freunden nicht angefasst werden soll. Gegenstände an ihrem Platz zu behalten und zu hoffen, dass Kinder von unserem „Nein“ in Dauerschleife lernen, hat nicht diesen Effekt. Kinder fassen die Gegenstände irgendwann aus Angst vor deiner Reaktion nicht an, nicht aus erreichtem Sozial-Etikette. Solcher Umgang fördert die Distanziertheit in der Eltern-Kind-Beziehung und hat den Ursprung, das Kind gehorsam machen zu wollen. (Lese Der Schaden des Gehorsams).

 

Junge Kinder, die Impulskontrolle noch nicht entwickelt haben (diese Entwicklung dauert ggf. die komplette Kindheit), und sich die Kunst der Empathie noch nicht angeeignet haben, können umgeleitet werden, um ihr Interesse und ihr Bedürfnis anders zu befriedigen, auf eine Art, die für alle annehmbar ist. Wenn wir freundlich sind und unseren Kindern dabei helfen, das zu bekommen, was sie sich wünschen, so verspüren sie nicht den Drang sich uns zu wiedersetzen oder andere Formen von Wiederstand zu leisten.

Anstatt Kinder anhand des Erwachsenen Maßstabs zu verurteilen (hört auf Kinder an Erwachsenenstandards zu messen! Kannst du hier lesen), sollten wir lieber ihren Entwicklungstand, ihre Persönlichkeit, die einzigartige Situation und überhaupt den Menschen vor uns berücksichtigen. Und das ist es was übrig bleibt, sobald Erziehungsstrategien verschwinden: Menschen. Menschen, die eine Beziehung pflegen. Menschen mit einzigartigen Vorlieben und Abneigungen. Menschen mit unterschiedlichen Toleranzen für Stress. Menschen, die ihre Umwelt beeinflussen und dabei lernen. Menschen, die dieselbe Motivation für ein friedliches, selbstbestimmtes Leben besitzen.

 

Wenn unsere Kinder Unruhe stiften, müssen wir uns daran erinnern…

 

*von positiven Absichten auszugehen. Kinder tun nichts aus Gehässigkeit. Sie kommunizieren durch ihr Verhalten und können selten bewusst nachvollziehen, wieso sie etwas aktiv tun. Wir müssen ihre Botschaften empfangen.

 

*auf Bedürfnisse statt Verhalten zu fokussieren. Bedürfnisse treiben unser Verhalten an; wo ein Bedürfnis ungestillt bleibt, versuchen wir es durch Strategien zu stillen: Ein übermäßiger Medienkonsum ist eine Strategie, um das Bedürfnis nach Ruhe oder Entspannung, Unterhaltung oder Lernen zu stillen. Wir müssen diesen Bedürfnissen Beachtung schenken, selbst wenn das Kind sie durch „schlechtes“ Benehmen kommuniziert. An dem Verhalten ist nichts falsch oder schlecht; er macht lediglich auf Bedürfnisse aufmerksam.

 

*die Verantwortung für die Qualität unserer Beziehung zu tragen. Unsere Kinder sind nicht für unsere Emotionen verantwortlich, es liegt nicht an ihnen uns zufrieden zu stellen, nicht ihre Stelle, die allgemeine Laune durch ihr Verhalten zu ändern. (Lese mehr darüber hier)

 

*Taten und Gefühle nicht an Bedingungen zu knüpfen. Unsere Kinder müssen nichts tun, um unsere Zuneigung und Aufmerksamkeit zu bekommen. Diese Dinge sind bedingungslos. Wir sind verbunden im Spiel und verbunden, wenn etwas Unerwünschtes geschieht. Schimpfen und Beschämen treibt einen Keil in unsere Beziehung, während Anleitung und Verständnis uns näher bringt.

 

*wertschätzend zu sein und mit unseren Kindern so zu sprechen, wie wir mit einem geschätzten Freund sprechen würden. Freundlichkeit zeugt Freundlichkeit und Wut ist genauso ansteckend wie Lachen. Wenn wir unsere Emotionen in Schach halten, werden Situationen nicht eskalieren und wir bleiben in Beziehung, während wir das Kind trösten und unterstützen.

 

*unseren Kindern auf Augenhöhe zu begegnen, nicht von oben herab zu reden. Die unerzogene Haltung erkennt Kinder als gleichwürdige Menschen an, die über dieselben Grundrechte wie Erwachsene verfügen. Wenn ihre Integrität und Autonomie nicht angegriffen oder unterdrückt wird, müssen sie nicht eine Verteidigungshaltung einnehmen, müssen nicht aus Trotz oder Tücke handeln.

 

*unsere natürliche Autorität nicht zu missbrauchen. Erwachsene sind älter, größer, haben mehr Erfahrung und Wissen mehr als Kinder. Diese Tatsachen verleihen uns Autorität. Diese Autorität ist eine der am meisten geschätzten Lernressourcen der Kinder… doch wenn wir sie ausnutzen, so greifen Kinder nicht mehr auf unseren Rat zurück. Wenn Kinder die Wahl haben zu kooperieren und darin vertrauen, dass wir auf ihrer Seite sind, ihnen helfen und unterstützen, dann suchen sie unser Wissen und vertrauen auf unseren Rat.

 

*Flexibilität vorzuleben. Als Erwachsene besitzen wir die Fähigkeit das Bedürfnis eines anderen über unser eigenes zu stellen. Das können Kinder nicht und sie lernen nicht zu kooperieren, wenn wir nicht mit ihnen kooperieren oder Flexibilität vorleben.

 

*sich zu fragen: Wieso macht mein Kind das? Wo ist seine Motivation? Was treibt ihn dazu, sich so zu verhalten? Wenn mein dreijähriger ein Festmahl stört, die Teller bis an den Tischrand schiebt, muss ich ihn nicht ausschimpfen. Ich registriere, dass er sich wohl langweilt, dass er überfordert von den Reizen ist oder dass er meine ungeteilte Aufmerksamkeit und Verbindung braucht. (Lese auf Bedürfnisse statt Verhalten fokussieren)

 

*Alternativen anzubieten; einen Weg suchen, das Bedürfnis des Kindes zu stillen. Ich biete ein Spiel an, entweder etwas, das geistig oder körperlich fordert; ich gehe in Beziehung und richte meine Aufmerksamkeit auf ihn („Wieso eigentlich keine Aufmerksamkeit geben?“); ich verlasse ggf. den Raum mit ihn für eine Weile, um mich wieder mit ihm zu verbinden und um Ruhe zu ermöglichen; wenn er nicht möchte, muss er selbstverständlich nicht zurück an den Tisch. Ich fokussiere nicht auf sein Benehmen, selbst wenn ein Teller vom Tisch purzelt und zerbricht. In diesem Fall fasse ich mich kurz: „ich möchte nicht, dass Teller zerbrechen“, und handele wie eben beschrieben. Der kaputte Teller ist die Konsequenz; alles andere wäre falsch, gezwungen, nicht authentisch und unproduktiv (ebenfalls erniedrigend). Mit älteren Kindern spreche ich später darüber, wenn sie ausgeglichen sind und an einem Dialog teilnehmen können oder die Situation mit Ruhe betrachten können. Hier geht es darum, Lösungswege für akute Situationen zu finden, Kommunikationsmittel anzubieten und darüber zu sprechen, wie das Geschehen andere beeinflusst hat oder welche natürlich-vorkommenden Konsequenzen es mit sich bringt.

 



 

Strafen haben keinen Lerneffekt auf Kindern; der Teil des Gehirns, der für die Impulskontrolle zuständig ist entwickelt sich noch. Der Grund weshalb Kinder auf Drohungen reagieren ist, weil ihnen Liebe, Komfort und Zugehörigkeit entzogen wird; diese Dinge sind bedeutende Grundbedürfnisse aller Menschen und wichtig für das Gedeihen der Kinder. Kinder werden von den Instinkten geführt, die sie von ihren Vorfahren geerbt haben, die Zuneigung eines Elternteils zu verlieren hätte in früheren Zeiten zu einem Kampf ums Überleben geführt. Ihre Bindungen oder Beziehungen sicherten ihr Überleben; deshalb wird ein Entzug dessen als Keulenschlag wahrgenommen. (Lese Über Liebesentzug und Time-Outs)

 

Bestrafungen sind nicht effektiv, das zeigen wissenschaftliche Studien ebenso wie die Geschichten vieler Eltern und Kinder. Die Drohungen und Strafen müssen immer ärger und beängstigender sein, damit sie ihre Macht behalten. Kinder in autoritären Bedingungen werden mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Trotzverhalten zeigen im Gegensatz zu Kindern, die in einem friedlichen Umfeld leben. Kinder lernen auch, dass es normal ist von einem geliebten Menschen verletzt zu werden, wenn sie sich auf eine bestimmte Art benehmen, so wird Zuneigung an Bedingungen geknüpft und verursacht, dass die Motivation sich moralisch zu verhalten eine egozentrische Herkunft hat: Was geschieht mit mir, wenn ich das jetzt mache? Ein Mensch raubt eine alte Dame nicht aus Moral oder Gefühl für Gerechtigkeit aus, sondern aus Angst vor der Bestrafung.

 

Wenn Bestrafungen verabreicht werden, werden Kinder nicht aus Respekt vor deiner Person geleitet, sondern aus Angst vor deinem Urteil. Das führt zu Angstbesetztes-Verhalten, wie lügen, stehlen und allgemein Dinge zu verstecken, um der Bestrafung zu entkommen.

 

Respekt kann nicht existieren, wenn Zwang und eine Macht-Über Haltung herrschen. Respekt kann nicht durch Methoden wie Bestrafung erzwungen werden… sie zeugen lediglich Angst. Respekt wird vorgelebt, nachgeahmt und verinnerlicht, als Teil unseres Sozialverhaltens.

 

Manche Eltern konzentrieren ihr Denken auf die Zukunft und machen sich Sorgen, ihre Kinder könnten sich in der Gesellschaft nicht einfinden, dass sie respektlos werden, und dass sie keine Empathie entwickeln. Sie fürchten, unerzogen bedeutet diese Eigenschaften werden nicht gefördert. Die traditionellen Erziehungsmethoden lassen uns glauben, sie müssten gelehrt werden, wir müssen etwas tun, damit sie solche Fähigkeiten wie Empathie, Respekt oder soziales Benehmen verinnerlichen. Solchem Lernen kann aber ein Individuum nicht aufgezwungen werden; es schlägt Wurzeln, wenn der Mensch entwicklungstechnisch bereit und auch gewillt ist. Kinder lernen durch die Imitation ihrer Umgebung; wer einen respektlosen Tonfall annimmt sichert sich eben solche als Antwort. Wenn wir Mitgefühl für unsere Kinder zeigen, ihre Gefühle und ihren Willen wertschätzen, so nehmen sie diese Haltung ebenfalls an, denn sie ist die natürliche Haltung des Menschen. Der gewöhnliche Wohlwolle oder gar Höflichkeit wird geübt und nachgeahmt, wird jedoch erst verinnerlicht sobald Kinder fähig sind, die soziale Verantwortung für sich zu tragen. Bevor diese Zeit eintrifft müssen Kinder als Kinder wahrgenommen werden, die sich so gut benehmen, wie ihre Fähigkeiten und Entwicklungsstand zulassen. Sie sind gut und richtig, genauso wie sie sind.

 

Kinder wollen kooperieren. Es ist eingebettet in ihrem Sein, Teil ihres Urinstinkts, von dem ich vorhin sprach. Sie kooperieren schon sehr früh (denke an dein zweijähriges, der ständig mit der Hausarbeit helfen möchte). Wir müssen lernen unseren Kindern zu vertrauen und anzuerkennen, dass sie intuitiv und kompetent sind! Wenn wir mit ihnen kooperieren, so lernen sie diese soziale Notwendigkeit und verwenden sie ebenso.

 

Die friedliche, zwangsfreie Elternschaft inspiriert uns die Grenzen unseres Denkens zu weiten und neue Wege zu finden, sie bringt uns dazu unsere Konditionierung zu hinterfragen und unsere Kinder als Partner oder Teamspieler im Leben wahrzunehmen. Wir lehnen die Macht-Über Haltung ab und so können Machtkämpfe nicht mehr bestehen. Unsere Aufmerksamkeit muss auf unser eigenes Verhalten gerichtet sein, wir müssen die Dinge hinterfragen, die uns selber in der Kindheit beigebracht wurden, nicht auf das Formen unseres Kindes, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu benehmen, fokussiert sein. Wenn Bindungen stark und respektvoll sind, wenn sie auf Vertrauen beruhen und Kinder sich auf sie verlassen können, egal was geschieht, dann wird Benehmen nebensächlich.

 

Befreie deine Kinder, sei jemand, dem sie vertrauen und respektieren; das Vorbild, das du für sie wünschst! Sei die Veränderung, die du gerne in deinem Kind sehen würdest!

 



 

I invite you to take your liberty and join the revolution!

 



 

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