Die Trotzphase? Nein, die Autonomie Phase!
Um den zweiten Geburtstag herum erleben Kinder einige Veränderungen. Wo sie sich bis jetzt mehr oder weniger auf uns und unser Wort verlassen haben und gerne ‚folgsam‘ waren, bestehen sie jetzt auf ihren Willen. Es ist nicht „Die Trotz-Phase“ sondern „Die Autonomie- Phase“. Kinder werden von primitiven Instinkten geleitet, die sie von Babys, abhängige Schoßlinge, zu autonomen, erfahrenen, fähigen Menschen transformieren.
Ihr Wille ist ihre Motivation, er führt sie zu Lernmöglichkeiten, ermöglicht es ihnen, selbstständig werden zu wollen und ist so stark, dass er nicht ignoriert werden kann. Neugierde und das Bedürfnis, ihre Welt zu entdecken und zu erforschen, treibt unsere Kinder an.
Zweijährige werden oft als mühselige, freche Tyrannen beschrieben, doch schauen wir genauer hin, so merken wir, dass ihr von Neugierde und Entdeckungsdrang geprägtes Verhalten dem eines Wissenschaftlers ähnelt. Sie untersuchen Nutzen, Konsistenz, Masse, Mansch- und Demolier-Fähigkeit und Resonanz. Sie haben eine Idee oder ein unbekannter Gegenstand kommt ihnen zu, die/der untersucht werden muss…sie experimentieren. Dann führen sie weitere Versuche durch, um zu sehen, ob die Ergebnisse der ersten Leistung gleichen. Dann versuchen sie etwas anderes, um zu sehen, wie das Getestete sich mit anderen Komponenten verhält. So gehen sie vor, Ursache und Wirkung durch Versuch und Irrtum zu erforschen. Was passiert, wenn ich mein Essen herunter werfe? Passiert das Gleiche, wenn ich es nochmal mache? Und wenn ich das jetzt mache? Und nochmal? Sie entdecken die grundlegenden Gesetze der Physik, der menschlichen Interaktionen und des Sozialbenehmens.
Die Impulskontrolle hat sich noch nicht entwickelt; unsere Lehren werden nicht rational verinnerlicht. Zweijährige haben nicht die geistige Kapazität, stehen zu bleiben, und zu denken, „Mama hat gesagt, ich soll mein Trinken nicht auf den Boden schütten; vielleicht lasse ich es lieber.“ Es bestehen keine Gedanken, keine Zweifel, nur der Drang und der Impuls. Die Reaktionen und die Resonanz, die wir hergeben, sind weitere Bereiche ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen. Sie sind für unsere Kinder nicht amüsant (obwohl sie das auch mal sind), sie entfachen weitere Neugier über ihre Kausalität und Wirkungsvermögen. Zweijährige lieben es zu lernen, wie sie ihre Umwelt und Mitmenschen beeinflussen.
Unsere Kinder leiden unter ihren internen Konflikten, die daher rühren, den schmalen Grat zwischen ‚beruhigend und sicher‘ und ‚unbekannt und neu‘ entlang zu laufen. Auf der einen Seite benötigen sie unsere Beihilfe und unsere körperliche Präsenz, auf der anderen Seite wollen sie alles selber machen und selbst bestimmen. Der Trieb autonom zu sein, stattet sie nicht mit den Fähigkeiten aus, es zu sein und der Lernweg, dem sie sich widmen kann frustrierend sein.
Die „Wutanfälle“, die ihnen widerfahren, stammen eher davon, etwas zu wollen aber nicht ganz befähigt zu sein, es zu bewerkstelligen. In diesen Momenten wollen sie nicht unsere Hilfe, sie suchen selten unsere Lösungen (Erwachsenes Denken!), sie brauchen unsere Bestätigung, dass es schwer ist, während sie sich auf unserem Schoß ausweinen. (Lese mehr über Wutanfälle hier.)
Die Autonomie ist es, welches unseren Kindern das Stehen auf eigenen Beinen und das Loslaufen ermöglicht; welches ihr Lernen motiviert; welches sie zu einem „Nein!“ ermächtigt. Der Wille des Zweijährigen ist nicht etwas, das gezähmt oder manipuliert werden sollte; sie müssen ihn erfahren, um zu wissen, wie er angewandt wird. Jeder Mensch verfügt über Macht und diese Macht muss auf eine Art und Weise eingesetzt werden, die sich nicht negativ auf die Gemeinschaft auswirkt. Diese Phase gibt Kindern dieses Verständnis; sie wollen die Konsequenzen ihrer Taten kennen, doch diese Konsequenzen dürfen niemals ausgedacht und wie Bestrafungen eingesetzt werden. (Lese „Unerzogen für Anfänger: Wie gehen wir mit „schlechtem“ Benehmen um und wieso wir nicht bestrafen“)
Diese natürlich entstehenden Konsequenzen stillen häufig die Neugierde unserer Kinder und beantwortet ihre Fragen: Wenn ich Wasser auskippe wird der Boden nass. Wenn ich zu hoch klettere, habe ich Schwierigkeiten herunter zu kommen und habe Angst. Wenn ich am Schwanz von der Katze ziehe, dann kratzt und faucht sie. Wenn ich mittags nicht neben Mama im Bett liegen bleibe werde ich sehr müde.
Diese Lektionen des Lebens schaffen mehr Eindruck, als unsere Worte es je könnten und sobald sie erfahren wurden, so richten Kinder ihre Aufmerksamkeit auf andere Themen und Abläufe, anstatt bei dem einen zu stagnieren. Weiterhin bringen diese Erfahrungen einen wichtigen Baustein für ihre Entwicklung mit: Die Selbstregulation. (Lese über „Mangeldenken und Selbstregulation“)
Zweijährige sind so nahe an ihren primitiven, wilden Instinkten, es fällt Erwachsenen manchmal schwer sich mit ihnen zu verbinden, denn wir haben zu diesem Teil unserer Menschlichkeit kaum noch einen Draht. Wir kommunizieren mit Worten, wo sie handeln; wir wägen die Risiken unserer Taten ab, wo sie alleine auf die Erfahrung fokussiert sind; wir wollen etwas erzielen, wo sie spielen wollen; wir wollen für Sicherheit sorgen, wo sie mutig und gewagt sind.
Diese Phase, das Streben nach Autonomie, kann von der Familie als anstrengend wahrgenommen werden. Die Autonomie eines kleinen Kindes wird oft missachtet auf Grund der Angst oder dem Glauben, Eltern müssten Kinder lenken und belehren, damit sie sich auf eine bestimmte Art benehmen. Ein Kind mit starkem Willen wird von unserer Gesellschaft für böse, trotzig und stur erklärt, doch dieser Glaube wird langsam aber stetig für veraltet gefunden. (Lese „Dann machen sie was sie wollen…Der kindliche Wille“)
Wenn es Kindern nicht erlaubt wird, ihren Willen zu regulieren und ihren Trieb nach der Exploration zu folgen, sondern konstant und konsequent verboten, abgelenkt und bestraft werden, so lernen sie nicht sich zu Benehmen; sie lernen Angst vor der Autorität zu haben, sie zu umgehen oder auszuspielen und einen großen Bogen um uns herum zu machen, um das zu bekommen, was sie brauchen. Wenn wir aber die Unterstützer sind, die ihren Willen ermöglichen, vertrauen sie uns und kommen zu uns. Das gemeinsame Leben wird friedlicher; wir stehen in Verbindung statt in Opposition und können unsere Kinder beschützen, sollten Experimente zu gewagt werden. Wenn wir ihr Vertrauen nicht haben, müssen sie trotzig und tückisch werden, um Autonomie zu erlangen. Z.B. ein Kind, das seinen Eltern vertraut, seinen Willen zu fördern, greift nach einer Hand, wenn es einen See näher untersuchen möchte, anstatt mit Vollpower darauf zu zu rennen, mit dem Wissen, es wird sofort gepackt und zurechtgewiesen.
Die Autonomie ist ein Geburtsrecht; es ist nicht etwas, das Kinder ohne Kampf aufgeben. Da wo Opposition und der Missbrauch der natürlichen Autorität der Eltern besteht, dort gibt es auch Machtkämpfe.
Überbehütende Eltern, die Kindern nicht erlauben, sich autonom zu erleben, behindern sie darin, wichtige Dinge über sich zu lernen, wie die persönliche Komfort-Zone ausfindig machen, das Abstecken und Beibehalten der persönlichen Grenzen und die Entwicklung der Selbstregulation.
Körperliche Autonomie muss in jedem Fall jedem Menschen gewährt werden. Sollten Kinder in der Autonomie Phase ihre Windeln nicht wechseln lassen wollen/ihre Zähne nicht putzen wollen/ihre Nägel nicht schneiden wollen/sich in ihren Autositz nicht festschnallen lassen wollen, müssen wir ihre Grenzen respektieren. Wie mit allen Dingen, werden sie die Art, wie wir mit ihnen umgehen, verinnerlichen und solches Verhalten auch an den Tag legen und ihre Mitmenschen mit ähnlicher Haltung begegnen. Bedürfnisse unterliegen jedem Verhalten, und dort wo ein unbefriedigtes Bedürfnis besteht, gibt es für uns etwas zu erfüllen. Vielleicht möchte das Kind diese Abläufe, die wir als notwendig betrachten, nicht über sich ergehen lassen, weil es in sein Spiel vertieft ist; Hunger hat oder anderweitig unbefriedigt ist; vielleicht hat es Angst; womöglich hat es sich nicht als autonom erlebt und hebt nun Anspruch darauf, beim Widersetzen unseres Willens.
Kinder wollen spielen. Wenn wir spielerisch in unserer Interaktionen sind, anstatt zu versuchen sie mit Gewalt folgsam zu machen, so werden sie mit Freude diesen Verrichtungen einwilligen. Es geht um die autonome Entscheidung; die Wahl.
Zweijährige sind Helfer; all das Lernen und Experimentieren hat ein Ziel: ein Teil der Gemeinschaft zu werden. Einen starken Willen zu haben, hält unsere Kinder nicht davon ab kooperativ zu sein, die Frage ist, sind wir kooperativ? Zweijährige haben großen Spaß daran, uns beim Verrichten der Hausarbeit zu unterstützen und lieben es Aufgaben erteilt zu bekommen, so lange ihre Autonomie und ihre Entscheidungsfähigkeit nicht bedroht werden. Sie sind dabei ihre Identität zu entdecken und identifizieren sich deshalb mit dem, was sie tun: Max Helfer! Max putzt gut! Max repariert! Max alleine! Selber! Sollten wir Max für faul, böse, unkooperativ oder stets Ärger-Suchenden erklären, so geben wir ihm Grund, sich mit diesen Dingen zu identifizieren.
Für unsere kleinen Homosapiens ist gut gesorgt, denn sie besitzen Instinkte, die sie beschützen. Sie waren nimmersatte kleine Raupen, haben alles vernascht, was sie in die Hände gekriegt haben (und haben mehr gegessen, als ich es für nötig oder tatsächlich auch möglich gehalten hätte) und sind nun extrem wählerisch geworden. Grünes oder rotes Gemüse ist meistens ein No-Go. Alles, was ansatzweise bitter ist, ist bäh! Sie essen das, was sie kennen, was süß und kalorienreich ist oder einfach das, was auf unserem Teller liegt. Und sollten wir es wagen das Essen auf ihren eigenen Teller zu geben, ist es wieder bäh!
Dieser Instinkt hat einen wichtigen Zweck: Kinder in der Autonomie- Phase erkunden ihre Umgebung und lernen vieles kennen, dadurch, dass sie es sich in den Mund stecken. Ihre Instinkte geben ihnen ein internes Alarmsystem mit, das sie davon abhält giftige Pilze, giftige Blätter oder giftige Beeren zu verzehren.
Außerdem wollen Zweijährige häufig nicht alleine laufen, sondern getragen werden, obwohl sie sonst so unermüdlich sind. Dieser Instinkt stammt vom Umherziehen unserer Vorfahren; Kinder mussten auf Reisen getragen werden, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Sobald wir am Ziel ankommen, ob auf dem Spielplatz oder im Supermarkt, widmen die Kinder sich erneut ihrer autonomen Abenteuer, in der Annahme, wir haben die Umgebung geprüft. Verständlicherweise sind sie noch Traglinge bis sie ungefähr mit dem abgeschlossenen vierten Lebensjahr zu Lauflinge werden.
Selbstverständlich sind alle Menschen unterschiedlich und einzigartig; mal ist ein Instinkt mehr ausgeprägt, mal weniger. Die Umwelt und die Einflüsse unserer Mitmenschen, die Nachzuahmenden, spielen ebenfalls eine große, prägende Rolle.
Wenn wir ihre Instinkte wahrnehmen, so erkennen wir wie richtig unsere Kinder liegen. Sie sind kompetent, weise und nicht aufzuhalten, wenn es um ihr Wissen geht. Nehmen wir sie so wahr, wird es leicht uns mit ihnen zu verbinden und in Beziehung zu bleiben. Unsere Rolle als Eltern wird mal wieder unterstrichen; sie ist nicht eine des Belehrens, Berichtigens oder Formens, nein. Wir sind Begleiter, Gefährten, Unterstützer, Förderer und Beschützer!
I invite you to take your liberty and join the revolution!
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