Persönliche Grenzen verteidigen VS stur sein

Im friedlichen Paradigma erkennen wir das Recht der Kinder auf Würde und Autonomie an. Der Wille des Menschen ist etwas Wunderbares und mächtiges; etwas, das verletzt und gebrochen wird, wenn wir durch Gehorsam kontrollieren und unterdrücken. Dies lehnen wir ab und entscheiden uns dafür mit unseren Kindern in Beziehung zu treten, uns auf ihre Bedürfnisse statt auf ihr Verhalten zu fokussieren und wenn wir Wege anbieten, um Wünsche und Bedürfnisse zu kommunizieren oder Konflikte zu lösen, tun wir dies auf freundliche und unterstützende Weise.

Als Erwachsene haben wir die Aufgabe die persönlichen Grenzen unserer Kinder zu wahren, wenn sie es selbst nicht können, z.B. wenn sie ein besonderes Spielzeug nicht teilen wollen und ein anderes Kind versucht es trotzdem wegzunehmen oder wenn ein Konflikt körperlich wird und Kinder sich selbst nicht schützen können.

In dieser Haltung verstehen wir, dass zwischenmenschliche Beziehungen durch Bedürfnisse und persönlichen Grenzen gekennzeichnet sind. Die Grenzen, die Komfortzonen und die Autonomie unserer Kinder werden anerkannt und respektiert und so respektieren sie für gewöhnlich ebenfalls die ihrer Mitmenschen. Doch manchmal reizen Eltern ihre Fähigkeit flexibel zu sein so weit aus, dass ihre Grenzen und Bedürfnisse nicht in gesundem Maße respektiert werden – denn sie respektieren sie selbst nicht. Dies geschieht häufig nach dem Wechsel zum friedlichen Paradigma. Wir wünschen unseren Kindern Autonomie und, dass sie ihren freien Willen ausleben können, sind aber frustriert, wenn wir uns in unserer eigenen Autonomie fremdbestimmt und eingeengt fühlen; viele von uns reagieren extrem allergisch darauf, was auf eine Kindheit in Unterdrückung zurückzuführen ist.

Flexibel zu sein und die Bedürfnisse unserer Kinder vor unsere eigenen setzen zu können ist wunderbar, aber unsere Grenzen freundlich und in Verbundenheit zu kommunizieren, wird meiner Erfahrung nach gut von Kindern aufgenommen und spielt eine große Rolle in der menschlichen Interaktion. Kinder erkennen und zeigen Respekt, wenn sie den Respekt beobachten, den wir ihnen, anderen und uns selbst entgegenbringen.

Obwohl wir unsere Kinder nicht herumkommandieren oder dazu zwingen etwas zu tun oder zu lassen, sind wir natürlich dazu berechtigt ein simples „Stopp!“ zu kommunizieren (z.B. wenn unsere körperliche Autonomie angegriffen wird), ebenso wie unsere Kinder es tun, wenn etwas zu grob ist oder sie nicht getragen werden wollen. Wir dürfen kommunizieren, dass wir sie noch einmal herumwirbeln und dann aber eine Pause brauchen. Wir dürfen kommunizieren, dass sie gerne wach bleiben können, wir aber so erschöpft sind, dass wir ins Bett gehen. Wir können kommunizieren, dass sie schaufelweise Matsche werfen können jedoch nur in die Richtung in der keine Menschen sitzen und, dass Matschstiefel ausgezogen werden bevor wir das Haus oder den Wohnbereich betreten. Ja auch, dass Wände oder Möbel nicht angemalt werden dürfen (wobei mir wichtig ist zu erwähnen, dass es für solche Wünsche viele alternative Angebote gibt, die das Interesse fördern und befriedigen).

 

Die Frage ist, setzen wir Grenzen, um unseren Kindern eine bestimmte Lektion zu erteilen, die wir als wichtig empfinden? Z.B. „iss nicht von meinem Teller, denn diese Lektion brauchst du im Leben…das macht man nicht“ oder „iss nicht von meinem Teller, denn ich mag es nicht, wenn Menschen von meinem Teller essen.“ Hier liegt ein bedeutender Unterschied – das erste ist klare Erziehung, die unseren Kindern falsche und unauthentische Grenzen überstülpt, darauf abzielt ihnen etwas beizubringen bei dem wir meinen, dass es wichtig und zu ihrem Besten ist und Lernen forciert, was tatsächlich nicht funktioniert. Lernen geschieht ganz automatisch beim Durchleben von Erfahrungen und Prozessen; nicht dadurch, dass wir tun was uns gesagt wird, um jemanden zu gefallen oder zu gehorchen. Das zweite Beispiel zeigt eine authentische Reaktion, die dem Kind die echte persönliche Grenze aufzeigt und klar den Wunsch kommuniziert, dass eben diese respektiert wird.

 

Stille ich ab, weil ich das Berühren meiner Brüste nicht aushalte und das Stillen keine Freude mehr macht oder weil meine Umgebung vorgibt, dass es nun Zeit ist?

 

Wenn wir Respekt und Selbstrespekt vorleben, nehmen unsere Kinder dies wahr und verstehen, dass keiner über andere herrscht und, dass nicht nur ihre eigenen Grenzen und Komfortzonen respektiert werden, sondern die aller. Hier liegt die Lektion des Lebens. Alle weiteren „Lektionen“ sind respektlos gegenüber dem Lernenden, bringen solch respektloses Verhalten bei und normalisieren den Machtgebrauch und das Ausüben von Zwang über einem anderen Menschen.

 

Wir müssen unsere Beweggründe untersuchen und herausfinden, ob der Ursprung authentisch ist, ob wir unsere eigenen Präferenzen und Glaubenssätze auf unsere Kinder übertragen oder, ob wir sogar Konflikten durch das Aufgeben unserer eigenen persönlichen Grenzen entfliehen. Unsere Kinder dürfen negative Emotionen durchleben; die Realität an sie anzupassen auf Kosten unserer Bedürfnisse ruft ein Ungleichgewicht hervor und führt häufig zu extremer Frustration, da wir auch auf diese Art in die natürlichen Erlebnis- und Lernprozesse der Kinder eingreifen. Wenn ein Spielzeug kaputt geht, durchlaufen Kinder auf ganz natürliche Weise einen Prozess des Weinens und Überwindens und schauen dann mit positiver Einstellung in die Zukunft. Stehen wir diesem Prozess im Wege, wenn wir z.B. sofort anbieten loszufahren und ein neues oder einen Ersatz zu kaufen, so wird er verzerrt. Der Fokus ist nicht auf das Erleben und die Trauer gerichtet, sondern die Aufmerksamkeit der Kinder wird auf einen Ersatz gelenkt; dadurch werden ihre Emotionen negiert und es wird ihnen die Möglichkeit genommen Lebenserfahrungen zu sammeln. In diesen Momenten sollten wir einen Schritt zurücktreten und unsere Kinder durch ihre Prozesse begleiten anstatt zu versuchen eine Realität zu erschaffen, die frei von Enttäuschungen und Kümmernis ist, den Weg vorzugeben und dabei unsere persönlichen Grenzen beiseite zu drängen.

 

Obwohl wir es als erwachsene Menschen schaffen unsere Bedürfnisse hinten anzustellen, sind auch wir anfällig für schlechte Laune und emotionale Ausbrüche, werden sie nicht zeitig befriedigt. In diesem Zustand kann Harmonie kaum bestehen und unsere Kinder können den natürlichen Selbstrespekt, für sich zu sorgen, nicht wahrnehmen, weil wir es ihnen nunmal nicht vorleben.

 

Wurden wir von unseren persönlichen Grenzen entfremdet z.B. aufgrund des Machtgebrauchs und der Missachtung unserer körperlichen Autonomie in unserer Kindheit oder schlicht und einfach wegen der Art wie unsere Kultur das Selbstaufopfern und das über die eigenen Grenzen hinausgehen zelebriert, dann haben wir womöglich Schwierigkeiten diese Grenzen ausfindig zu machen.

 

Wir können folgenden Fragen stellen, um Klarheit bei unserem Tun zu erlangen:

 

Tue ich dies, um von negativen Emotionen oder Konflikten abzulenken?

 

Agiere ich innerhalb meiner persönlichen Grenzen? (Kann ich das Kind noch tragen? Bin ich zu müde? Bin ich zu hungrig? Habe ich genug Geld? Tut es weh? Ist es zu laut? Etc.)

 

Erziehe ich mein Kind nach Maßstäben der traditionellen Erziehung, nach dem Motto: ich weiß, was am besten ist, was mein Kind jetzt lernen sollte, dass Respekt durch Zwang und Durchsetzungsvermögen erlernt wird etc.?

 

Erfinde ich Grenzen in dem Glauben mein Kind müsse sie respektieren oder sind dies meine wahren persönlichen Grenzen?

 

Kommuniziere ich auf sanfte, freundliche, empathische Art und Weise und validiere ich Emotionen?

 

Bin ich gerade überfordert mit der Situation und will es mir nicht eingestehen?

 

Bin ich gerade stur?

 

Stur auf etwas zu beharren ohne links und rechts zu schauen, lebt eben solches Interagieren vor und hält uns von authentischen Beziehungen fern. Solches Verhalten führt zu Machtkämpfen statt lösungsorientiertem Denken.

 

Gerade heute suchten meinen Sohn und ich nach einer Lösung für unsere kollidierenden Bedürfnisse: ich hatte eine persönliche Grenze erreicht und wollte nicht mehr eingeengt in der Ecke sitzen mit seinem Stuhl an den meinen herangeschoben. Jedes Mal, wenn ich aufstand, musste ich über seinen Stuhl klettern oder mich zwischen Tisch und Schrank durchquetschen. Er wollte so nah sein wie möglich, doch ich fühlte mich beengt. Ich hatte meinen Zeh beim Aufstehen gestaucht und war mir klar darüber, dass ich diese Sitzordnung nicht mehr wollte; ich schlug ihm vor Plätze zu tauschen, weil wir dann nebeneinander sitzen könnten, aber ich frei beweglich wäre. Zuerst war er traurig und verärgert, aber dies legte sich als er meine Klarheit spürte und er akzeptierte dann schnell meine Grenze. Ich war weder stur noch befehlerisch in meiner Kommunikation, bestätigte seinen Wunsch vor und nach der Erläuterung meines Bedürfnisses und fragte ihn, ob er eine andere Lösung sehe.

 

Stur zu sein hat wenig mit Selbstrespekt oder einem starken Willen zu tun. Eine persönliche Grenze und unseren Willen zu vertreten schließt das Verhandeln oder das Suchen nach einer Lösung, die allen passt oder gar das flexibel Sein nicht aus.

 

Es ist auch nicht wichtig dauerhafte Grenzen festzustecken – Kinder lernen durch Authentizität, nicht durch Konsequenz. Die traditionelle Erziehung besagt Kinder benötigen konsequentes Verhalten, Regeln und festgelegte (künstliche) Grenzen, um sich sicher zu fühlen und um soziales Benehmen zu erlernen, doch unser Wort stur zu halten und das Vorleben lösungsorientierten Denkens, Flexibilität und Rücksicht auf die Wünsche und Bedürfnisse anderer zu versagen, trägt nicht dazu bei soziale Fähigkeiten zu entwickeln.

 

Authentische Beziehungen die einzigartig und individuell sind, die den freien Willen, die Würde und die Autonomie des einzelnen berücksichtigen, sind von natürlichen Grenzen, Bedürfnissen und auch durch Konflikte gekennzeichnet. Als Erwachsene müssen wir den Unterschied zwischen stur den eigenen Willen durchsetzen und dem Kommunizieren einer persönlichen Grenze vorleben. Wir müssen für das „Unden“, den Dialog und Lösungsvorschläge offen sein während wir respektvoll handeln und unseren Selbstrespekt wahren.

 

I invite you to take your liberty and join the revolution!

 

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